Der Rhonegletscher

Der Name Käsli wird in der schweizerischen Kunstgeschichte des 19. Jahrhunderts kaum erwähnt, und in den Sammlungen der Museen sucht man ihn vergebens. Das scheint unglaubhaft, wenn man sein majestätisches und in ikonographischer Hinsicht aussergewöhnliches Gemälde Der Rhonegletscher kennt. Sein grosses Format steigert den Eindruck der Erhabenheit noch. Dem Urner Maler ist es gelungen, den realistischen und den romantischen Aspekt der alpinen Landschaft zu vereinen. Er hat sich bemüht, sie durch mannigfaltige Effekte - das Spiel von Licht und Schatten, den Kontrast zwischen Trübheit und leuchtender Transparenz, den Wechsel von liebevoll geschilderten und geheimnisvollen Zonen - in ihrer ganzen Grösse wiederzugeben. 
Es ist keine unberührte Natur: Die geraden Linien eines Verkehrsweges - der Furkastrasse - sind deutlich erkennbar. Hingegen beeinträchtigt kein Gebäude die Erhabenheit der Gegend. 
Der Mensch ist auf unaufdringliche Weise gegenwärtig. Wenn man der dunklen Diagonale im Vordergrund folgt, entdeckt man unten rechts ein paar Personen, die Reisende oder Bauern sein können. Der Künstler lässt sie in der Unendlichkeit der idealisierten Natur aufgehen. 
Diese bedeutende Komposition steht in der Tradition der Landschaftsmalerei, wie sie Diday und Calame als Meister ihres Faches gepflegt haben. Aber keiner der beiden hat die Gegend am Rhonegletscher gemalt. Kaspar Käsli, ein Schüler von Calame, war jedoch nicht der erste, der seine Staffelei vor dieser Landschaft aufgestellt hat. Der Aargauer Caspar Wolf, der Vorläufer der Hochgebirgsmalerei, der Zürcher Heinrich Wüest und der Neuenburger Maximilien de Meuron hatten bereits ihre visionären Interpretationen gegeben. 
Die unzähligen Gletscherspalten und die erstarrten Wogen des blauen Eismeeres beleben die Mitte der Komposition, indem sie zwei Diagonalen bilden. Diese blendende und phantastische Partie ist von naturalistischen Landschaftselementen wie den Gipfeln im Hintergrund und den Alpenrosensträuchern umrahmt. Die Komposition mit ihren grossartigen Akzenten ist nicht frei von Übersteigerung. Ein Exvoto, das Lorenz Justin Ritz 1847 gemalt hat, gibt das wirkliche Aussehen der Gegend mit grösserer Wahrheitsliebe wieder. 
Das Thema Hochgebirge, die Eis- und Felseffekte und das Format machen Käslis Gemälde zu einem charakteristischen Beispiel für die schweizerische Malerei um die Mitte des 19. Jahrhunderts. Eine ähnliche Begeisterung für die Gebirgsmalerei herrschte zu dieser Zeit auch in den Vereinigten Staaten. Der Mensch entdeckte damals die Grösse der Natur und bildete sie mit Hingabe, Bewunderung und nicht ohne einen pantheistischen Unterton nach.
 

Käsli Kaspar

Kaspar Käsli; wurde am 11. Oktober 1826 in Altdorf (Uri) geboren. Er war Schüler von Johann Anton Muheim und begab sich dann zum berühmten Landschaftsmater Alexandre Calame nach Genf und schliesslich nach München und Paris. 

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