Auf dem Kirchhof von Hérémence

Der Name Vallet ist eng mit dem Wallis verbunden, nicht nur deswegen, weil er durch eine glückliche Fügung an Valais anklingt. Auf den Gebieten der Malerei und der Graphik war Vallet der beste Interpret dieser an eigenständigen Traditionen, Typen und Landschaften reichen Gegend. 
Im Februar 1908 suchte er das Wallis auf. Was ihn zu diesem Schritt bewog, ist unbekannt, denn er hat sich zu dem für seine Laufbahn entscheidenden Entschluss nie geäussert. Er war damals 32 Jahre alt und zählte bereits zu den verheissungsvollsten Genfer Malern seiner Zeit. Genf veranstaltete in jenen Jahren zahlreiche Ausstellungen moderner Kunst. Das Bâtiment électoral führte alljährlich die Exposition municipale des beaux-arts durch. Die 19. und die 20. Auflage (Herbst 1906 und 1907) erlebten qualitativ hochstehende Beteiligungen. Vallet selber war 1906 mit Der Garten im Mai und 1907 mit sechs Werken, darunter Ländliches Glück; sehr gut vertreten. Ausserdem waren viele wichtige «Walliser» Bilder zu sehen. Edmond Bille stellte Die Rast aus, Biéler zeigte seine neuen Savieser Kompositionen in Tempera; Virchaux, Rehfous und Ruch traten ebenfalls mit Werken hervor, die ihre Entstehung Savièse verdankten, das damals eine eigentliche Künstlerkolonie war; vor allem aber legte der junge Walliser Maler Raphy Dallèves 1907 eine Tempera vor, die sich Die Wäscherinnen, Hérémence nannte. Möglicherweise hat dieses Werk Vallet, der sich durch die vielfältigen Zeichen und Winke angezogen fühlte, zu seinem Schritt veranlasst.
Tatsache ist, dass er sich im kalten Februar 1908 in Hérémence aufhielt. Er machte sich unverzüglich an die Arbeit, wie die Gouache- und Ölbilder belegen, in denen das bläuliche Weiss des Schnees vorherrscht. Zu diesen ersten Versuchen zählt ein kleines Bild ohne Titel, das auf dem Rahmen die Inschrift «Projet de tableau» trägt. 
Es ist das Bild aus unserer Sammlung. Der ganze Vallet ist in diesem kleinformatigen Werk ohne Datum und Signatur schon da. Wahrscheinlich ist es das erste Bild, das der Künstler im Wallis gemalt hat. Der Kolorist ist am Rot des Grabkranzes noch deutlich erkennbar. Vallet ist auf das Ritual aufmerksam geworden, das sich auf dem Friedhof der alten Kirche von Hérémence abspielt. Drei der vier weiblichen Figuren halten brennende Kerzen in der Hand. Dieses Element erlaubt, ein genaues Datum vorzuschlagen, das durch die Liturgie bestätigt wird, nämlich den 2. oder den 3. Februar (Mariä Lichtmess bzw. Fest des hl. Blasius). An diesem Tag tragen die Gläubigen eine Kerze nach Hause, die sie vor Halsleiden schützen soll. 
Das Werk ist rasch entstanden. Der Künstler hat seine Komposition mit sicherer Hand entworfen. Die Mauern im Hintergrund kontrastieren mit den zarten und klaren Flächen des verschneiten Kirchhofs, wo zwei einheimische Frauen in der damals noch täglich getragenen Tracht betend an einem Grabe stehen. Das Todesmotiv durchzieht Vallets gesamtes Walliser Werk. Die Kirchhof- und Beerdigungsszenen nehmen sowohl in seiner Malerei wie in den pathetischen Radierungen, die er von 1909 an schuf, bis hin zu dem persönlichen Drama, das mit dem Tod seiner Frau über ihn hereinbrach, eine Schlüsselstellung ein. Man findet die braune Frauengestalt in den Radierungen Frauen auf dem Kirchhof (Graber Nr. 39) und Am Grabe (Graber Nr. 40) wieder. Sie trägt dasselbe Messbuch unter dem Arm; weil aber der Abdruck der gravierten Platten seitenverkehrt ist, scheint sie eine andere Stellung einzunehmen. 
Das «Projet de tableau» ist Entwurf geblieben und nie in ein grösseres Format umgesetzt worden. Dennoch gibt es im malerischen Werk Edouard Vallets eine ähnliche Szene, die sich auf demselben Kirchhof, und zwar beim Südportal, abspielt. Dieses Ölgemälde von ansehnlicher Grösse, das An einem Grabe heisst und auf das Jahr 1908 datiert ist, nimmt das Motiv der beiden betenden Frauen getreulich wieder auf, nur dass sie diesmal der Beerdigung beiwohnen. Demnach kann man dieses Werk als endgültige Fassung unserer kleinen Studie bezeichnen, dieser ersten Annäherung an die Walliser Wirklichkeit, die fortan Vallets ganzes Werk bestimmen sollte. 
Die Technik, die der Künstler angewendet hat, verrät, dass er Schicht für Schicht auftrug. Die Figur links ist mit den blauen Pinselstrichen bloss angedeutet; man sieht sogar noch die Leinwand durchscheinen. Die braune Tracht der in Rückenansicht gegebenen Frau ist so sehr mit Farbe gesättigt, dass die Materie dicht, aber matt erscheint, was für Vallets Manier bezeichnend ist. Die wahre Grösse eines Kunstwerks bemisst sich nicht unbedingt nach seinem Format.
 

Vallet Edouard

Edouard Vallet wurde am 12. Januar 1876 in Genf geboren. Die künstlerische Ausbildung holte er sich an der Kunstgewerbeschule und an der Ecole des Beaux-Arts seiner Heimatstadt. Seine Lehrer waren Alfred Martin, Barthélemy Menn und Pierre Pignolat.

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