Der Käfig
Öl auf Leinwand, 56 x 47 cm
Es war einmal ein chinesischer Kaiser, der es über alles liebte, der Nachtigall auf dem Baum in seinem Garten beim Singen zuzuhören. Eines Tages liess er den Vogel einfangen und sperrte ihn in einen goldenen Käfig, damit er ihm ganz in Ruhe zuhören konnte. Doch die Nachtigall blieb stumm und nichts konnte sie dazu bringen, ihr Trällern hören zu lassen. Da wurde der Kaiser krank und keine Medizin konnte ihn heilen. Sein Hof besorgte ihm einen mechanischen Vogel, doch deren Gesang besass weder die Reinheit noch die Sanftheit der Nachtigallstimme. Der Kaiser begriff, dass nur die Freiheit dem Gesang seine zauberhafte Schönheit verleiht, und befahl, im Sterben liegend, das Tier freizulassen. Da flog die Nachtigall auf den Baum und sang, und der Kaiser wurde wieder gesund.
Diese Variante des berühmten Märchens von Andersen endet glücklich und lässt die bedrückende requiemhafte Atmosphäre hinter sich, die im Bild von Henri Roulet herrscht. Dort ist ein goldener Käfig zu erkennen. Darin eingesperrt ist ein exotisch aussehender Vogel auf einer Schaukel. Dieser ist nicht allein, da sind auch noch die Lebenden und die Toten, die Katze und die Uhr, und die Fenstersprossen wirken ein wenig wie Gitterstäbe. Die Frau ist in ihrer extremen Einsamkeit gefangen, die Alten in ihren Holzrahmen, die Katze in ihrer mineralischen Erstarrung, die Uhr in ihrer Cheminéegarnitur, die Farben in ihrer Trauerkleidung und die Blumen in ihrem Topf. Die Bäume sind zwei Wächter vor dem klebrigen Himmel, das Fenster ist vom Vorhang mit Kopfband und dickem Stoff auf beiden Seiten eingefasst. Würde man den Käfig öffnen, würde sich das Bild erhellen, die Katze zum Leben erwachen. Und die Blumen wären wie Hände, die sich öffnen.
Roulet Henri
Der gelernte Steinschleifer Henri Roulet erlernte das Malen autodidaktisch abends nach der Arbeit. Er besuchte keine Malkurse, ging jedoch häufig an Ausstellungen und in Museen, um seine technischen und künstlerischen Kenntnisse zu erweitern. Erst 1942, nach einer langen Krankheit, beschloss er, die Malerei zum Beruf zu machen. Der Genfer stellte 1961 erstmals im Wallis aus.
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