Der Zopf

Die Tracht von Evolène konnte der Aufmerksamkeit von Malern, die nach pittoresken Vorwürfen Ausschau hielten, nicht entgehen. François de Ribaupierre hielt sich 1907 zum erstenmal in Les Haudères auf. Im Jahre 1914 liess er sich dort nieder und war von da an der Lobpreiser dieser Gegend, die es verstanden hat, das Tragen der Tracht als Element ihres lebendigen Brauchtums zu erhalten. 
«Ich kam als Maler hierher, um Zuflucht vor der Künstlichkeit der Zivilisation zu suchen. Man findet dort oben eine echte Einheit von Leben, Landschaft und Mensch... Alle Handlungen, die man am Bergler beobachten kann, sind von einer Wahrheit und Grösse, die man in der Stadt nicht findet; jede seiner Gebärden verbindet ihn mit der Welt seiner Ahnen.» Dieses Glaubensbekenntnis bestimmt und rechtfertigt die ganze Kunst François de Ribaupierres. Als Freund und Mitarbeiter Ernest Biélers teilt er dessen Begeisterung für die flämischen Primitiven und ihre minuziöse Technik. Diese Eigenschaften finden sich in der reizenden häuslichen Szene wieder, bei deren Schilderung sich der Malerum totale Lebensnähe bemüht. Er fängt alle Einzelheiten ein, die das alltägliche Milieu einer Evolener Familie ausmachen, und zeigt ein Mädchen, dessen blondes Haar die Mutter in Zöpfe flicht. Die typischen Merkmale der Bekleidung und der Möblierung sind mit ethnographischer Genauigkeit abgebildet. 
Doch der ausgesprochen schildernde Charakter der Szene wird durch einen ausgeprägten Sinn für die Wahl des Bildausschnitts und den geschickten Einsatz rein graphischer Elemente vertieft. Das gilt vor allem für die geometrischen Motive der Stoffe - der Vorhänge, Bettücher, Kleider und Gürtel - und für die stilisierten Verzierungen der verschiedenen Stickereien und Möbelstücke. Das Ganze atmet ein zartes und warmes Gefühl der Geborgenheit, das durch den Blick des Mädchens noch unterstrichen wird. Sein Gesicht, das von einer rührenden Lebensnähe ist, kündigt eine Reihe von Köpfen an, die der Künstler für eine Serie von ProJuventute-Karten schuf, die ihm zu grosser Bekanntheit verholfen hat.
 

De Ribaupierre François

François de Ribaupierre wurde am 30. März 1886 in Clarens-Montreux geboren. Von 1902 bis 1905 besuchte er die Ecole des Beaux-Arts in Genf; dann bildete er sich an der Königlichen Akademie in München, in Paris und an der internationalen Akademie von Florenz weiter. Dort wurde er zum Bewunderer der italienischen Renaissance.

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